Herausforderungen
Mehr denn je steht die Berliner Schule vor immensen Herausforderungen. Dazu gehören nicht nur fehlende Lehrer und bröckelnde Fassaden, sondern auch inhaltliche und strukturelle Fragen. Weiter...
Handlungsfelder
Zu den wichtigsten Handlungsfeldern gehören: Unterrichtsversorgung, Integration und Inklusion, Digitalisierung, Schulbausanierung, Neuorganisation der Oberstufe sowie die politische Bildung.
1. Unterrichtsversorgung
Tarifvertragliche Gleichstellung oder Verbeamtung
In den Berliner Schulen ist in den letzten Jahren immer wieder gestreikt worden. Zu den Kernforderungen gehören die tarifrechtliche Angleichung für angestellte Lehrer und mehr Gehalt für Grundschulpädagogen. Hintergrund ist nicht nur die tarifliche Ungleichheit, sondern auch die fehlende Attraktivität des Lehrerberufs in der Hauptstadt. Denn Berlin ist neben Sachsen das einzige Bundesland, das seine Lehrkräfte nicht mehr verbeamtet. Das ist ein entscheidender Grund, warum viele Uni-Absolventen aus anderen Bundesländern nicht in die Hauptstadt wechseln wollen. Diesen Standortnachteil gilt es angesichts des akuten Lehrermangels zu beseitigen: Entweder es wird endlich eine tarifvertragliche Bezahlung und Lohngerechtigkeit gegenüber den verbeamteten Kollegen hergestellt oder Berlin führt die Verbeamtung wieder ein.
Besonders dramatisch ist der Lehrermangel an den Grundschulen, wo verstärkt Quereinsteiger und Studienräte eingestellt werden, denen die erforderliche Qualifizierung fehlt. Daher müssen Grundschulpädagogen genauso viel verdienen wie ihre Kollegen an den weiterführenden Schulen.
Ausstattung von 110 % an jeder Schule oder drei Reservestunden für jeden Lehrer
Während der Berliner Senat behauptet, dass nur zwei Prozent des Unterrichts ersatzlos ausfallen, hat der Verein „Bildet Berlin!“ errechnet, dass in jedem Schuljahr rund zwei Millionen Stunden nicht regulär erteilt werden. Das sind etwa zehn Prozent des gesamten Unterrichts. Getrickst wird mittels einer Statistik, die z.B. „erteilte Aufgaben“ als Vertretung aufführt.
Zwar steht jeder Schule für die Vertretung ein Personalkostenbudget (PKB-Mittel) in Höhe von drei Prozent der Lehrerausstattung zur Verfügung, aber angesichts des akuten Lehrermangels wird es für Schulleitungen immer schwieriger, Vertretungslehrer einzustellen. Besonders dramatisch ist der Lehrermangel an den Grundschulen.
Um den Unterrichtsausfall zu minimieren, sollten entweder alle Schulen eine Personalausstattung von 110 Prozent erhalten oder bei jedem Lehrer werden drei Stunden aus seinem Deputat für Vertretung reserviert. Diese Ausstattung, die seit Jahren auch von der GEW gefordert wird und in vielen Unternehmen Praxis ist, würde auch endlich eine individuelle Förderung ermöglichen sowie die Umsetzung von Inklusion und Integration erleichtern.
2. Schulausstattung
Schulbausanierung mittels einer „Berliner Schulimmobilien GmbH“
Angesichts der umfangreichen Medienberichterstattung über die zum Teil katastrophalen baulichen Zustände und fehlende Schulplätze in einigen Bezirken liefern sich die Parteien vor der Berlin-Wahl ein Wettlauf um die Konzepte zur Auflösung des Sanierungsstaus. Ungeachtet gegenseitiger Schuldzuweisungen ist unstrittig, dass es in den letzten Jahren vom Land zu wenig Geld gab – und dass viele Bezirke das Geld zweckentfremdet ausgegeben oder aufgrund von Personalmangel, Missmanagement und lange Bauplanungszeiten einfach nicht abgerufen haben. Vernachlässigt wurde im Hinblick auf die stetig wachsende Stadt auch der Schulneubau.
Inzwischen meldeten die Bezirke Anfang Juli einen aktuellen Sanierungsbedarf in Höhe von fünf Milliarden Euro; eingerechnet sind dabei auch die modernen Anforderungen wie Barrierefreiheit und Energieeffizienz. Um den Sanierungsstau aufzulösen sind daher nicht nur zweckbestimmte und mehr finanzielle Mittel notwendig, sondern auch eine neue Struktur.
Die Zuständigkeit für die Sanierung und den Neubau von Schulen sollte von den Bezirken auf eine landeseigene „Berliner Schulimmobilien GmbH“ übertragen werden. So könnte ein Teil der notwendigen Gelder über Kredite finanziert werden; sie würden den laufenden Haushalt nicht belasten und Berlin würde nicht gegen die Schuldenbremse (ab 2020) verstoßen. Die Schulimmobiliengesellschaft müsste für alle Berliner Schulgebäude – in Abstimmung mit den Schulen - einen Bedarfsplan erarbeiten, der nach Dringlichkeit abgearbeitet würde. Grundsätzlich sollte der Landesbetrieb nach dem Vorbild Hamburgs alle baulichen Dienstleistungen bündeln: von der Planung bis zum Hausmeister. Ziel sollte eine zentrale Steuerung aller Aktivitäten und Kapazitäten sowie eine schnellere Umsetzung von Schulbauprojekten sein.
Digitalisierung über einen gemeinsamen Server für alle Schulrechner
Die Digitalisierung in den Berliner Schulen steckt in den Kinderschuhen, v.a. aus Sicht der Jugendlichen. So kritisieren Schüler die mangelnde digitale Ausstattung der Klassenräume und trauen laut Umfragen ihren Lehrern im Umgang mit digitalen Medien nicht viel zu. Die Praxis zeigt: zu recht. Es wird in Berlin zwar kein eigenes Fach Digitale Bildung geben, aber ab dem Schuljahr 2017/18 ist die Medienbildung im Lehrplan verankert. Schüler sollen dann neben Textverarbeitung auch Grafik-, Bild-, Audio- und Videobearbeitung lernen. Und die Lehrer? Es wird nicht ausreichen, Klassenräume flächendeckend mit Smartboards auszustatten („Berlin wird kreidefrei!“).
Voraussetzung sind Weiterbildungsangebote und die Bereitstellung bzw. professionelle Wartung einer zeitgemäßen IT-Infrastruktur, die entweder von einem fest angestellten IT-Beauftragten in jeder Schule betreut wird oder – wie es das Hasso-Plattner-Institut vorschlägt - von professionellen Administratoren, die von einem gemeinsamen Server für alle Schulrechner die Hard- und Software pflegen.
3 Inklusion, Integration und politische Bildung
Integration der geflüchteten Kinder und Jugendlichen
In Berlin wurden im letzten Schuljahr über 1100 Willkommensklassen eingerichtet. Weil die Schulen unterschiedliche Erfahrungen gesammelt haben, sollte zu Beginn des neuen Schuljahres 2016/17 ein Berliner Schulgipfel zur Beschulung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen mit allen Verantwortlichen einberufen werden. Es könnten dabei auch Erfahrungen aus anderen Bundesländer berücksichtigt werden.
Dazu zählt vor allem die Frage, wann Schüler von der Willkommensklasse in die Regelklasse wechseln sollten. Viele Schulen haben die Erkenntnis gewonnen, dass ein zu früher Wechsel nachteilig ist. Eine integrative Sprachförderung kann in den Willkommensklassen besser gewährleistet werden als in regulären Kassen. Die Pädagogen sind für die notwendige Spracharbeit mit den geflüchteten Kinder und Jugendlichen sensibilisiert. Und die Qualität des Spracherwerbs ist der Schlüssel für eine erfolgreiche Integration.
Ungeachtet dessen bedarf es ausreichend Personal: Dazu gehören nicht nur die Lehrkräfte und Erzieher, sondern Psychologen und ein verantwortlicher Willkommens-Koordinator in der Schulleitung.
Die Lehrkräfte und Erzieher in den Schulen müssen in den Bereichen Deutsch als Zweitsprache (DaZ), Umgang mit Schülern mit Fluchterfahrungen sowie mit religiösen und kulturellen Unterschieden systematisch und verpflichtend qualifiziert werden. Voraussetzung für alle Maßnahmen ist ein verlässlicher Personal- und Qualifizierungsplan, der mit den Bildungsstadträten, Schulleitungen und den Personalräten abgestimmt ist.
Außerdem sollte die Arbeit mit den geflüchteten Kinder und Jugendlichen eine entsprechende Wertschätzung erfahren. Keine Honorarverträge und keine tarifliche Herabstufung von Lehrern in Willkommensklassen ohne volle Lehrbefähigung, die Deutsch als Zweitsprache oder als Fremdsprache studiert haben.
Inklusion
In der öffentlichen Wahrnehmung spielt die Inklusion angesichts der Integration der geflüchteten Kinder und Jugendlichen in den laufenden Schulbetrieb nur noch eine untergeordnete Rolle. Inklusion bleibt aber eine der zentralen Herausforderungen für die Schule. Zwar werden mit Beginn des Schuljahres 2016/2017 in Berlin sechs „Inklusive Schwerpunktschulen“ eingerichtet, aber der Hauptstadt fehlt bis heute ein tragfähiges und langfristiges Gesamtkonzept zur Umsetzung der Inklusion. Dabei ist Inklusion an fast allen Schulen längst Schulalltag. In Berlin lernen inzwischen ca. 60 Prozent der förderbedürftigen Kinder an Regelschulen. Es fehlt jedoch nicht nur an Konzepten, sondern auch an Personal. Zusätzliche Lehrkräfte, Erzieher und Schulhelfer müssen eingestellt sowie Förderstunden erhöht werden. Schulleiter weisen seit Jahren daraufhin, dass der Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern im Rahmen der Inklusion eine besonders große Herausforderung darstelle. Hier seien speziell ausgebildete Fachkräfte notwendig.
Einführung des Faches Politik in der Sekundarstufe I
Die politische Bildung fristet in den Berliner Schulen ein Schattendasein. In der Sekundarstufe I soll im Rahmen des Geschichtsunterrichts laut Lehrplan auch Sozialkunde (ab 2017: Politische Bildung) unterrichtet werden. Soweit der Anspruch. In vielen Schulen werden die politischen Themen jedoch nur am Rand behandelt oder fallen gleich ganz unter den Geschichtstisch. Lediglich in der Sekundarstufe II wird Politikwissenschaft als eigenständiges Fach angeboten. Die Politikwissenschaftlerin Sabine Achour (Freie Universität Berlin) konstatiert 2015: „In Bundestag und Bundesrat gelten die Berliner Schülergruppen als die Schlusslichter, wenn es darum geht, über politische Entscheidungsprozesse zu diskutieren. Selten kennen sie die Bedeutung eines Parlaments oder des Föderalismusprinzips für die Demokratie. Zu politischen Fragen können sich viele nur schwer positionieren. Häufig eher emotional als mit guten Argumenten. Die Oberstufenlehrkräfte des Faches Politikwissenschaft melden zurück, dass kaum Kompetenzen während der Sek. 1 erworben wurden.“ Angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen in den letzten Monaten und der Bewältigung der Herausforderungen, insbesondere bei der Umsetzung von Inklusion und Integration, ist das ein unhaltbarer Zustand. Daher sollte in der 9. und 10. Klasse das Fach Politik (statt Ethik) eingeführt werden. Das Fach Ethik könnte weiterhin in Klasse 7 und 8 unterrichtet werden.
4 Schulorganisation
Neuorganisation der Oberstufe
Die Kritik von Schülern, Eltern und Lehrern über Stofffülle, lange Schultage und viele Hausaufgaben seit der Einführung von G8 reißt nicht ab. In anderen Bundesländern wurde das verkürzte Abitur bereits wieder zurückgenommen. Das wird vom Berliner Senat nach wie vor mit dem Hinweis auf die neue, zweigliedrige Schulstruktur abgelehnt: Am Gymnasium wird das Abitur nach 12 und an der Integrierten Sekundarschulen (ISS) nach 13 Jahren absolviert. Allerdings ist weniger bekannt, dass man an den ISS die Abiturzeit auch auf 12 Jahre verkürzen kann. Umgekehrt ist ein Abitur nach 13 Jahren an Gymnasien nicht möglich. Grundsätzlich sollte an beiden Schulformen G9 gelten.
Die Rückkehr zu G9 hätte einen weiteren schulorganisatorischen Effekt: eine Neuorganisation der Oberstufe. Das erste Halbjahr der 11. Klasse könnte zur Einführungsphase und das letzte Semester in der 13. Klasse zum Prüfungssemester werden. Das würde eine Entlastung für alle Beteiligten bedeuten, denn bisher wird im vierten Semester der Kursphase nicht nur der reguläre Unterricht erteilt, sondern auch alle Abiturprüfungen abgenommen. Der Prüfungszeitraum zieht sich dabei aufgrund der zentralen Prüfungstermine und der Präsentationsprüfungen über Wochen hin, sodass die Unterrichtszeit im vierten Semester verkürzt wird und eine Klausur der nächsten folgt. Für die Schüler bedeutet das permanenter Stress, für die Schulleitungen ein immenser organisatorischer Aufwand und die Lehrer müssen improvisieren, um den Lehrplan einzuhalten.
Abschaffung des Mittleren Schulabschlusses (MSA) an Gymnasien
Der 2006 eingeführte MSA hat sich für die Gymnasien als nicht sinnvoll erwiesen. Er führt zu Unterrichtsausfall und bindet Ressourcen. Außerdem ist er kein aussagekräftiger Qualitätsindikator, denn das nahezu 100prozentige Bestehen der zentralen MSA-Prüfungen in Deutsch, Mathe und Englisch an Gymnasien schönt die Berliner Statistik.
Die Forderung zur Abschaffung des MSA wird seit langem von der Vereinigung und seit 2015 auch vom Landeselternausschuss (LEA) gefordert. Stattdessen sollten Gymnasiasten mit der erfolgreichen Versetzung in die 11. Klasse den MSA automatisch erhalten. Das entspricht - worauf der LEA zu Recht hinweist – auch der Praxis in anderen Bundesländern.
Vier- statt sechsjährige Grundschule
Wer in Berlin und Brandenburg die sechsjährige Grundschule in Frage stellt, gilt als Befürworter der Selektion, die vor allem Kinder aus bildungsfernen Schichten benachteilige. Dass sechs Jahre Grundschule mehr Gerechtigkeit und einen größeren Lernerfolg fördern als vier Jahre, lässt sich jedoch empirisch kaum nachweisen. Der Psychologe Kurt Heller (Universität München) sieht in der sechsjährigen Grundschule keine erkennbaren Vorteile, wohl aber Nachteile: „Diese betreffen nicht nur Leistungsaspekte, sondern tangieren die gesamte Persönlichkeitsentwicklung.“ Zudem gäbe es keine Studien, die höhere Trefferquoten nach einer fünf- oder sechsjährigen Grundschulzeit nachweisen konnten. Auch der Bildungsforscher Rainer Lehmann (Humboldt-Universität Berlin) ist der Auffassung, dass die Kinder durch eine sechsjährige Grundschule gebremst würden. Der Rückstand am Ende der 6. Grundschulklasse betrage im Lesen eineinhalb Jahre, in Mathematik und Englisch zwei Jahre.
Und die Berliner Schulstruktur entkräftet auch das Argument, der zu frühe Wechsel sei sozial ungerecht und benachteilige Spätentwickler. Denn erstens wird die sechsjährige Grundschule durch die vielen grundständigen Züge (Gymnasium ab Klasse 5) längst unterlaufen; inzwischen wird eine solche Möglichkeit an 35 Gymnasien (Schuljahr 2016/17) angeboten. Schulleiter, die an ihren Schulen grundständige Züge anbieten, sehen darin eine „perfekte Frühförderung“. Sie sind der Auffassung, dass die Schüler mit Gleichinteressierten auf deutlich höherem Niveau arbeiten würden, als das an den Grundschulen möglich sei.
Zweitens wird mit dem Wechsel nach der vierten Klasse auf das Gymnasium oder die Integrierte Sekundarschule keine Entscheidung über den Schulabschluss getroffen. Denn beide Schulformen bieten das Abitur an: am Gymnasium nach 12 Jahren, an den meisten ISS nach 13 Jahren.
Und drittens würde man mit der vierjährigen Grundschule ein gravierendes Problem – ganz nebenbei - beheben: den akuten Mangel an Grundschullehrern.